Gut versteckt unter einem Laubhaufen lag ein Ei. Niemand hatte es bis jetzt entdeckt außer ein schwarzer Rabe. Er beobachtete das Ei schon lange … Vorsichtig hatte er etwas Laub darüber gelegt, um es so vor anderen, etwaigen Feinden, zu schützen. Das Ei war viel größer, als die Rabeneier und deshalb war der Rabe auch sehr gespannt, was daraus schlüpfen würde …
Plötzlich krachte es, die Eierschale brach auf und ein kleiner Drache kletterte etwas tollpatschig heraus. Verdutzt wischte er sich die Blätter aus dem Gesicht. Die Sonne blendete ihn – war er doch nur die Dunkelheit im Ei gewöhnt. Er streckte sich nach allen Richtungen. So viel Platz war neu für ihn. Keine Eierschale umgab ihn, die ihn einengte, die ihm umgekehrt aber auch Schutz und Sicherheit gab. Zuerst wusste der kleine Drache nicht, was er mit seiner neu gewonnen Freiheit anfangen sollte. Sie machte ihm sogar etwas Angst, da sie ihm fremd war. Neugierig sah er sich um. Wo war er?
Er saß unter einem großen Baum, dessen Blätter im Wind raschelten. Das Laub hatte sich schon verfärbt und der kleine Drache bewunderte die bunte Farbenpracht.
„Hey, du!“, rief da jemand von einem Ast herunter. „Bist du da etwa aus dem Ei geschlüpft!?“ „Ja, das bin ich!“, gab der kleine Drache verdutzt zu. „Na, endlich! Ich warte schon eine Ewigkeit darauf!“, krächzte es vom Baum herunter. „Wer bist du denn?“, wollte der kleine Drache wissen. „Ich bin der Rabe Ralf.“, bekam er zur Antwort. „So ein Lebewesen wie dich, habe ich hier im Wald noch nie gesehen. Was bist du für einer und woher kommst du?“, fragte der Rabe wissbegierig. Aber woher sollte der kleine Drache das wissen, wer er war und woher er kam? So antwortete er nur: „Ich bin aus einem Ei geschlüpft …!“
„Ja, soviel weiß ich auch schon.“, antwortete der Rabe und schüttelte den Kopf über soviel Unwissenheit. Dann breitete der Rabe seine Flügel aus und ließ den kleinen Drachen allein zurück.
Der kleine Drache ärgerte sich etwas über seine Bekanntschaft. Er beschloss nicht länger unter dem Baum sitzen zu bleiben, denn die Fragen des Rabens beschäftigten ihn. Und unter diesem Baum hier, würde er wohl keine Antwort auf seine Fragen finden. Er spürte ein schwaches Kribbeln im Bauch, das ihn antrieb aufzubrechen. So machte er sich auf den Weg …
Er staunte über alles, was er sah, hörte und roch. Seine Augen freuten sich über bunte Blumenwiesen und die lustigen Wolkenfetzen am Himmel. Seine Ohren lauschten dem Summen der Bienen und dem Singen der Vögel. Und hie und da blieb er stehen, um den bezaubernden Duft einer Blume zu riechen. Wie schön das doch alles war!
Plötzlich zog etwas, das von Baum zu Baum hüpfte seine Aufmerksamkeit auf sich. Fröhlich sprang das kleine Etwas vor die Füße des kleinen Drachens. Auch dieses Geschöpf wollte wissen, wer der kleine Drache war. Aber der kleine Drache hatte noch keine Antwort auf diese Frage gefunden … Sein Gegenüber stellte sich als Erich, das Eichhörnchen, vor. Erich war sehr einfühlsam und meinte: „Irgendwo kommst auch du her. Jeder hat eine Herkunft und Wurzeln!“ Der kleine Drache sah an sich herunter, aber Wurzeln sah er keine … Und als Erich auch noch von Familie sprach, verstand der kleine Drache gar nichts mehr. Liebevoll erklärte Erich, dass Familie das sei, wo das Leben beginnt und die Liebe niemals endet. Dann war seine Familie wohl eine zerbrochene Eierschale? Und was war Liebe überhaupt? Ratlos sah er das Eichhörnchen an. Da bekam Erich Mitleid mit dem kleinen Drachen. Er wollte ihn nicht alleine mit seinen vielen ungeklärten Fragen zurücklassen. So machte er dem kleinen Drachen den Vorschlag, dass er gerne mit ihm kommen könnte. Er würde die anderen Waldbewohner einberufen und sie um Rat fragen. Vielleicht konnte ja jemand dem kleinen Drachen weiterhelfen.
Der kleine Drache staunte nicht schlecht, als er sah, wieviele Tiere sich auf der Lichtung eingefunden hatten. Sie stellten sich alle bei ihm vor: Rehe, Hasen, Fasane, viele Frösche und Waldmäuse, ein Fuchs und sogar eine Eule und ein Uhu. Alle beäugten sie den Drachen neugierig …
Da meinte der weise Uhu: „Du bist zwar wunderschön, Kleiner, aber du ähnelst keinem von uns. Aber auch wenn du anders bist als wir, darfst du gerne bleiben!“ Der kleine Drache nahm das Angebot sehr gerne an. Er wurde sehr freundlich von allen aufgenommen und fühlte sich auch recht wohl in dieser Gemeinschaft. Dennoch spürte er tief in seinem Herzen eine Sehnsucht, die er nicht beschreiben konnte. Der kleine Drache hatte viel von den Waldbewohnern über das Leben gelernt. Unter anderem hatte ihm der weise Uhu von Eltern, von Mama und Papa, die ihre Kinder liebten, erzählt. Diese Liebe wäre bedingungslos, gütig und höre niemals auf. Der kleine Drache fragte sich, ob auch er Mama und Papa hatte, wer diese waren und ob sie wirklich diese Liebe für ihn empfinden würden?Deshalb beschloss er wieder aufzubrechen, um sich auf die Suche zu machen.
Auf seiner Reise kam er an einem See vorbei. Er funkelte im Sonnenlicht und neugierig hielt der kleine Drache seinen Kopf über die Wasseroberfläche. Da entdeckte er plötzlich sein Spiegelbild im Wasser. Er war erstaunt über sein Äußeres und musste selbst zugeben, dass die Lebewesen, die ihm bis jetzt begegnet waren, ganz anders aussahen. Dennoch ließ er sich nicht entmutigen. Sein Herz sagte ihm, dass auch er ein zu Hause, eine Familie und Eltern hatte.
Der kleine Drache hatte den Wald und seine Freunde schon weit hinter sich gelassen und sein Weg führte ihn aufwärts auf einen Berg. Er musste eine Pause einlegen und verschnaufte. Dabei genoss er den unglaublichen Ausblick. Plötzlich vernahmen seine Ohren unbekannte Geräusche und er richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf. Der Weg vor ihm machte eine scharfe Linkskurve und er war schon gespannt, was ihn dahinter erwartete …
Sein Herz klopfte vor Aufregung und als er um die Wegbiegung kam, blieb er wie angewurzelt stehen … Der kleine Drache traute seinen Augen nicht!
Unbemerkt beobachtete er die zwei Geschöpfe vor ihm, wie sie herumtollten und spielten. Doch dann hielten die zwei inne und sahen den kleinen Drachen genauso verdutzt an, wie er die beiden ansah. Da rief einer der beiden: „Mama, komm schnell! Da ist einer, der sieht aus wie wir!“
Kurz darauf eilte ein etwas größerer Drache aus einer kleinen Höhle, die der kleine Drache noch nicht entdeckt hatte … Auch sie blieb, wie angewurzelt stehen, als sie den kleinen Drachen sah. Er sah den anderen beiden zum Verwechseln ähnlich. Mama Drache brach in Tränen aus, lief auf den kleinen Drachen zu und umarmte ihn innig. „Schön, dass du uns gefunden hast. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben …!“ Und dann erzählte Mama Drache, wie sie ihre Dracheneier vor einem Geier retten musste und eines dabei verloren ging … Wie verzweifelt sie suchte und doch immer fühlte, dass ihr drittes junges Drachenbaby am Leben war.
Der kleine Drache wurde herzlich als neues Familienmitglied aufgenommen. Und er durfte erfahren, was es heißt eine Familie zu haben, die ihn liebte. Wo er getrost sein konnte, wie er war. Wo er mit allen Sorgen und Ängsten kommen durfte, wo er Liebe und Verständnis, Mut und Zusprache bekam. Nun konnte der kleine Drache erahnen, was die Liebe war … sehr vielfältig und facettenreich und die Liebe einer Mutter war grenzenlos!
Eine Geschichte, die ich für meine zwei Töchter geschrieben habe … Liebe Mariella und liebe Katharina, ich habe euch unendlich lieb!!!
Natürlich darf die Geschichte auch von allen anderen liebenden Mamas und Papas verwendet werden. Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen und Vorlesen!
Herzlichst
Cornelia
Schreibe einen Kommentar