Foto: Pixabay

Es war einmal ein kleiner Bär. Manchmal wanderte er pfeiffend entlang eines Weges. Ein anderes Mal summte er leise ein Lied vor sich hin. Es kam aber auch vor, dass er stillschweigend und in seine Gedanken versunken seine Wanderung führte. Der kleine Bär trug einen Strohhut auf seinem Kopf, der schon ein paar Löcher hatte. Seine wenigen Habseligkeiten hatte er in ein Bündel gepackt, das er an einen Stock gebunden hatte. Diesen trug er lässig über der Schulter.
Hatte der kleine Bär ausgeschlafen und sein Frühstück gegessen, dann packte in meistens die Wanderlust. Oder auch nicht. Manchmal fand er den Ort, wo er gerade war so schön, dass er noch eine Zeitlang dort verweilen wollte. Oder er hatte sein Lager gerade an einem fischreichen Fluss aufgeschlagen, dann überkam ihn die Freude am Angeln. Wenn er dann abends am Lagerfeuer saß bei gebratenem Fisch und Feuerkartoffeln – ja dann meinte es das Leben wohl sehr gut mit ihm. Satt und zufrieden sah er in die Flammen des Lagerfeuers. Das Knistern und die wohlige Wärme des Feuers waren sehr angenehm und machten ihn schläfrig. Dann machte er sein Nachtlager zurecht und schaute so lange in den Sternenhimmel, bis ihm die Augen zufielen.

Vom Gezwitscher der Vögel und den ersten Sonnenstrahlen ließ sich der kleine Bär wecken. Normalerweise zumindest. Heute weckte ihn jedoch ein anderes Geräusch … Räuspernd stand da jemand vor ihm. Es dämmerte schon, aber so unvorbereitet aus dem Schlaf gerissen zu werden, war der kleine Bär nicht gewohnt. Nur unscharf nahmen seine Augen die Umrisse seines Gegenübers wahr. Dafür vernahmen seine Ohren aber umso deutlicher die Worte des Fremden. „Was machst du hier!?“, wollte der Unbekannte wissen. „Wie du siehst, schlafe ich hier!“, antwortete der kleine Bär und rieb sich müde die Augen. Er gähnte und erkannte, dass wohl seine Nachtruhe für heute beendet war. „Morgenstund hat Gold im Mund!“, ließ der frühe Wanderer nicht locker. Der kleine Bär richtete sich auf und nun, da seine Augen und sein ganzer Körper schön langsam wach wurden, erkannte er auch wer vor ihm stand. Es war ein rotbrauner, kräftiger Fuchs. Durch seinen freundlichen Blick und seine sanfte Stimme war der Fuchs dem kleinen Bär gleich sympathisch. „Wo soll dich dein Weg heute hinführen? Vielleicht kannst du mich ja ein Stück begleiten?“, schlug der Fuchs vor. Da entgegnete der kleine Bär: „Da ich noch nicht weiß, wohin mich meine heutige Reise führen soll, kann ich ruhig ein Stück mit dir gehen.“ Der Fuchs runzelte die Stirn und meinte: „Du hast keinen Plan, wo du am Abend ankommen willst!?“ „Nein“, sagte der Bär. „Ja, hast du denn kein Ziel vor Augen?“, fragte der Fuchs ungläubig. Wiederum verneinte der kleine Bär die Frage des Fuchses. Der kleine Bär packte seine Sachen zusammen und dann brachen die zwei ungleichen Gesellen auf. Der eine, der einen genauen Zeitplan hatte und den Weg genau wusste, den er vor sich hatte. Und der andere, der spontan entschied, wohin die Reise gehen sollte und auch mal einen Umweg in Kauf nahm.
Der Fuchs erzählte, dass er am Abend in einem kleinen Städtchen ankommen möchte. Dort hätte er schon ein Zimmer gebucht. Es wäre aber ein langer Fußmarsch bis dorthin, der wenig Zeit für Pausen und zum Verschnaufen ließ. Weiters meinte er: „Ich kann gar nicht verstehen, dass du keine Vorstellung hast, wo du am Abend sein möchtest. Beunruhigt es dich nicht, nicht zu wissen, wo du die Nacht verbringen wirst?“ Da sagte der kleine Bär: „Ich sehe meinen Weg schon als Ziel und lasse mir gerne einen gewissen Freiraum, um spontane Entscheidungen treffen zu können. Und manchmal bin ich selbst erstaunt, welche Überraschungen das Leben für mich bereit hält.“ Darauf sagt der Fuchs lange nichts.

Der Magen des Bären knurrte schon, da er es nicht gewohnt war, ohne Frühstück aufzubrechen. Sie kamen gerade an einem schönen Aussichtspunkt vorbei und eine Bank lud zum Verweilen ein. „Ich würde hier gerne eine Rast machen“, war der Vorschlag des kleinen Bären. Nur ungern hielt der Fuchs an. Seine Zeit erlaubte es eigentlich nicht hier eine Pause einzulegen. Unruhig saß er auf der Bank und zappelte hin und her. Der kleine Bär hingegen aß genüsslich sein Frühstück, beobachtete wie die Sonne langsam das Himmelszelt empor kletterte und ein Schmetterling an ihnen vorüber flog. „Wir müssen uns wieder auf den Weg machen!“, drängte der Fuchs. Da der kleine Bär den Fuchs nicht vergraulen wollte, befolgte er seinen Wunsch.

Schnellen Schrittes, der keine Zeit ließ, um nach rechts oder links zu schauen, setzten die beiden ihre Reise fort. Für den Bär war dieses Tempo ungewohnt und die heiße Sommerluft dazu, ließen ihn schnell müde werden. Gott sei Dank erblickte er da in der Ferne einen See. Der kam wie gerufen. Dort wollte er anhalten und ein erfrischendes Bad nehmen. Doch der Fuchs ließ sich von dieser Idee nicht begeistern und so verabschiedeten sich die zwei Weggefährten. Der Fuchs schüttelte den Kopf und dachte bei sich: „Ein Träumer, dieser Bär. Wer keine Vorstellung vom Leben hat, wird nie etwas erreichen …“ Da watschelte eine Schar Gänse an ihm vorbei. Das Wasser rann ihm bei ihrem Anblick im Mund zusammen. Doch leider hatte er keine Zeit. Er hörte nur, wie die Gänse im vorübergehen schnatterten: „Ein blind date mit dem Schicksal …“ Ganz schön mutig fand der Fuchs die Einstellung der gefiederten Tiere.

Als der Fuchs bei Sonnenuntergang sein Ziel endlich erreicht hatte, fiel er todmüde in sein Bett. Nicht einmal der Gänsebraten, den er sich im Hotel bestellt und auf den er sich den ganzen Tag schon gefreut hatte, schmeckte ihm. Er dachte an den kleinen Bären. Wohin ihn sein Weg wohl heute noch geführt hatte? Wo würde er die Nacht verbringen? Vielleicht saß er noch am See, lauschte dem Zirpen der Grillen und beobachtete die Libellen bei ihrem Tanz über dem See. Wie sehr hätte er jetzt die Gesellschaft des kleinen Bären genossen. Er erinnerte sich an die Worte des Bären: „Der Weg ist bereits mein Ziel …“ Ja, der kleine Bär hatte wohl auch jeden Tag ein blind date mit dem Schicksal. Und da beneidete der Fuchs den kleinen Bären fast ein wenig. Dem Leben einfach seinen Lauf zu lassen und nicht ständig alles fix geplant zu haben, Dinge loszulassen und sich vom Leben überraschen lassen zu können, spontan und flexibel bleiben …  Das war eine Lebenseinstellung die der Fuchs bisher nicht kannte. Vielleicht machte das das Leben erst aus? Möglicherweise war das erst der Luxus am Leben? Aber da war der Fuchs auch schon eingeschlafen …

Ich wünsche dir, dass du immer das richtige Maß an „Ziel vor den Augen“ und “Freiraum, dem Leben seinen Lauf zu lassen“ finden mögest. Mal wird das eine, mal das andere überwiegen. Ich wünsche dir Zeit zum Durchatmen und auch die Zeit mal einen „Umweg“ im Leben gehen und diesen als Bereicherung ansehen zu können.

Herzlichst

Cornelia