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Es war einmal ein kleiner Gnom. Er wohnte einsam und verlassen in einer Höhle in den Bergen. Niemand wollte ihm freiwillig begegnen, denn er war griesgrämig und sein Herz war kalt. Sobald die Sonne aufging und das Dunkel der Nacht verdrängte, machte er sich auf den Weg.

Er stieg einen steinigen und steilen Weg in Richtung Gipfel hinauf und nahm dann einen Abzweig, der ihn an einem tosenden Gebirgsbach vorbeiführte. Dort, wo der Bach ruhiger wurde, setzte er seinen Rucksack ab und begann im seichten Wasser nach funkelnden, wertvollen Steinen zu suchen. Knietief stand er mit gebeugtem Rücken im eiskalten Wasser. Sein Rücken schmerzte und seine Füße waren taub vor Kälte. Dennoch ließ ihn seine Gier tagein und tagaus wieder zu dem Gebirgsbach gehen. Früher kehrte er jeden Tag mit einem Rucksack voller wertvoller Steine nach Hause zurück, aber schon seit längerer Zeit fand er keinen einzigen kostbaren Stein mehr. Zu dem Gefühl der Gier mischten sich Ärger und Wut. Ärger und Wut darüber, dass er einfach keine Edelsteine mehr finden konnte. Gleichzeitig überkam ihn aber auch die Angst. Angst, er könnte zu wenig haben und sein Besitz könnte sich verschmälern.

Als der Gnom nun da so verbissen nach Edelsteinen suchte, merkte er gar nicht, dass ein Wanderer des Weges kam. Ein Strohhut bedeckte seinen Kopf und sein Gesicht war braun gebrannt. Pfeifend und frohen Mutes wanderte er entlang des schmalen Pfades. Erst als der Wanderer seinen Rucksack abnahm und sich auf einem großen Stein niederließ, um sich etwas auszuruhen, bemerkte der kleine Gnom seine Anwesenheit. Er hob kurz den Kopf und schaute dann gleich wieder weg. Er wollte seine Ruhe haben und keine neugierigen Fragen gestellt bekommen. Den freundlichen Gruß des Wanderers beantwortete er nur kurz und unfreundlich. Der Wanderer spürte, dass sein Gegenüber kein Interesse an einem Gespräch hatte und akzeptierte das. Er beobachtete den kleinen Gnom lediglich bei seiner verbissenen Suche. Als sich der Wanderer gestärkt hatte, wollte er noch eine kurze Abkühlung im Bach nehmen. Dazu zog er seine Wanderschuhe aus und streckte seine Füße ins erfrischend kalte Bergwasser. Aus den Augenwinkeln beobachtete der Gnom den Wanderer. Er watete ein Stück bachabwärts und bückte sich plötzlich. Dann hob er einen funkelnden Stein aus dem Wasser. „Oh, der ist aber wunderschön!“, meinte der Wanderer. Er hielt den Edelstein gegen die Sonne und nun sah auch der Gnom das Glänzen des Steines. Verärgert wendete sich der Gnom ab. Wie konnte es nur sein, dass dieser Fremde auf Anhieb einen Stein fand und er wochenlang nicht einen einzigen Fund machte!? Der Gnom sah noch, wie der Wanderer den Stein in seinen Rucksack packte und sich freudig wieder auf den Weg machte. Da beschloss auch der Gnom seine Suche für heute zu beenden. Das Glück war offensichtlich nicht auf seiner Seite.

Erschöpft erreichte er seine Höhle. Bevor er ein Nickerchen machen wollte, kramte er noch seine Schatztruhe aus ihrem sicheren Versteck hervor. Er öffnete die Truhe, um nach seinen Edelsteinen zu sehen und war geblendet von dem Funkeln und Glänzen, das ihm entgegenkam. Vorsichtig nahm er jeden einzelnen der Edelsteine heraus und begutachtete ihn. Was für ein Reichtum, was für ein Besitz! Je mehr er davon hatte, desto besser. So war die Einstellung des Gnoms. Als er endlich wieder alle Edelsteine sorgfältig in die Truhe eingeräumt hatte und diese in ihr Versteck gab, sodass sie auch niemand finden konnte, legte er sich auf sein einfaches Nachtlager. Tief und fest schlief er ein. Erst am späten Nachmittag erwachte er wieder und trat vor seine Höhle. Er überlegte, was er mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollte. Irgendwie sehnte er sich nach jemandem, mit dem er sich unterhalten konnte. Aber er wusste, dass es sehr unwahrscheinlich sein würde, dass ihn jemand in seiner Höhle besuchen würde. Jahrelang zeigte er sich den vorüberkommenden Wanderern gegenüber uninteressiert, kalt und abweisend. Und im Laufe der Zeit mied in jeder. Anfangs war er froh darüber von keinem mehr gestört zu werden. So konnte er seiner Suche nach Edelsteinen ungehindert nachgehen. Heute sehnte er sich aber nach Gesellschaft und einem Gegenüber mit dem er plaudern hätte können. Er dachte an die vielen lustigen Stunden und warmherzigen Gespräche mit seinem Freund, dem Raben. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, einer unterstützte den anderen und hörte sich seine Gedanken und Sorgen an. Sie freuten sich gemeinsam über die schönen Dinge im Leben und der kleine Gnom fühlte sich nie einsam. Der Rabe zeigte sich zuerst hartnäckig und besuchte den kleinen Gnom immer wieder, obwohl dieser immer weniger Zeit für ihn hatte. Aber irgendwann kam auch er nicht mehr … Wie gerne wäre der Gnom jetzt mit dem Raben auf der Holzbank unter der alten Kiefer gesessen, hätte dem Gezwitscher der Vögel gelauscht und den Sonnenuntergang beobachtet. Anstatt seinem Freund und den Mitmenschen mit einem offen, warmen Herzen zu begegnen, war er die letzten Jahre nur mit der Anhäufung von Edelsteinen beschäftigt gewesen … Traurig stellte er sich nun die Frage, was diese ihm bringen würden? Sie lagen an einem sicheren, geheimen Ort, wo sie niemand finden konnte … Er hatte sich von den Edelsteinen nicht einmal selbst etwas gegönnt, geschweige denn sie mit anderen geteilt … Unnütz waren sie. Plötzlich kamen sie dem kleinen Gnom als Ballast vor … Zugern hätte er die Uhr zurückgedreht und seine Zeit lieber den Mitmenschen gewidmet, als sie für die Suche nach den Edelsteinen vergeudet. Aber leider konnte er dies nicht mehr rückgängig machen. Seine einzige Möglichkeit war, sein Leben ab sofort einfach anders zu gestalten …

Da hatte er einen wunderbaren Einfall … Er lief in seine Höhle, holte seine Schatzkiste hervor und nahm eine Handvoll Edelsteine und packte sie in seinen Rucksack. Dann machte er sich auf zu der alten Kiefer. Zielstrebig wanderte er über Wurzeln und Steine und schon bald erreichte er sein Ziel. Zufrieden ließ er sich auf der Bank nieder. Hier wollte er einfach warten. Es würde bestimmt jemand vorbeikommen … Und der kleine Gnom hatte recht. Es dauerte gar nicht lange, da kam der erste Wanderer vorbei. Er sah müde und erschöpft aus. Als er die Bank, auf der der Gnom saß, erblickte, zögerte er kurz und entschloss sich dann doch eine kurze Pause zu machen. Beide schwiegen zuerst. Der Gnom wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Gespräche zu führen und auf seine Mitmenschen einzugehen, waren ihm fremd geworden. Doch dann fasste er all seinen Mut zusammen und fragte den Wanderer, wohin ihn sein Weg heute noch führen wollte und nach dem Grund seiner Wanderung … Da begann der Wanderer zu erzählen … Er sei auf dem Weg zu seinem Freund, dem es gesundheitlich gar nicht gut ginge … Der Gnom unterbrach den fremden Wanderer nicht, lauschte seinen Erzählungen und ganz unbemerkt und heimlich, steckte er einen seiner Edelsteine in den Rucksack des Wanderers. Er konnte ihn bestimmt brauchen … vielleicht um die Familie des Freundes zu unterstützen. Der Wanderer bedankte sich für das Gespräch und wollte aufbrechen, um noch heute vor Einbruch der Dunkelheit bei seinem Freund einzutreffen. Auch der kleine Gnom machte sich auf den Heimweg. Irgendetwas war jedoch anders … Sein Herz  war erfüllt von Freude über die Bekanntschaft des Wanderers. Was würde er wohl sagen, wenn er den Edelstein finden würde?

Von nun an ging der kleine Gnom jeden Tag zu der Bank unter der alten Kiefer. Viele Wanderer kamen vorbei, hielten an, plauderten und wanderten weiter. Und immer wieder entdeckten die Reisenden überrascht und wie durch ein Wunder einen Edelstein in ihren Taschen und Rucksäcken. Gerade denjenigen, die es am allerschwierigsten im Leben hatten, mit denen es das Schicksal gerade gar nicht gut meinte, schenkte der Gnom nicht nur Zeit indem er ihren Geschichten lauschte, sondern er beschenkte sie auch mit Edelsteinen, um somit ihr Leid etwas zu lindern. Und je mehr der Gnom von seinen Edelsteinen verschenkte, desto fröhlicher und unbeschwerter wurde er selbst. Und schon bald sprach man von dem ruhigen und schönen Kraftplatz in den Bergen, wo ein Gnom mit offenem Ohr den Geschichten der Wanderer lauschte …

Ich wünsche euch, dass euch immer der Blick für die wesentlichen Dinge im Leben erhalten bleibt!

Herzlichst

Cornelia