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Es war einmal eine Schnecke. Sie hieß Frieda und hatte ein wunderschönes Schneckenhaus. Sie lebte an einem Bachlauf nahe eines Waldes. Jeden Morgen rekelte sie sich, streckte zuerst den einen Füh­ler, dann den zweiten aus ihrem Schneckenhaus und kroch dann vorsichtig aus ihrem Haus. Langsam machte sie sich auf ihren Weg über die glitschigen Steine ans andere Ufer. Frieda wollte weg von hier. Sie hatte das Plätschern des Baches satt. Sie wollte etwas anderes sehen, die Welt entdecken und neue Erfahrungen sammeln. Frieda ärgerte sich über ihr Haus am Rücken, das sie so langsam vorwärts kommen ließ. Es war Ballast und Ärger zugleich für sie. Sie brauchte für ein kurzes Stück Weg eine gefühlte Ewigkeit …

„Guten Morgen, liebe Frieda!“, begrüßte Hase Flinkerfuß die Schnecke gut gelaunt. „Wohin geht die Reise heute?“ „Ach, du weißt doch, bei mir geht einfach nichts weiter …!“, beklagte sich Frieda. „Und wohin willst du, Flinkerfuß?“ „Einmal zur Lichtung auf die bunte Blumenwiese und wieder zurück. Dort gibt es herrlichen Löwenzahn zu knabbern!“, antwortete der Hase. „Wenn du willst, nehme ich dich ein Stück des Weges mit!“, meinte Flinkerfuß. Dieses Angebot konnte die Schnecke natürlich nicht ausschlagen, krabbelte in ihr Schneckenhaus zurück und der Hase nahm sie vorsichtig mit seiner Pfote hoch und hobelte los. Frieda wurde in ihrem Schneckenhaus hin und hergeworfen und sie war froh, als Flinkerfuß endlich stehen blieb und sie sicheren Erdboden unter den Füßen hatte. Ihr war schwindelig und schlecht zugleich. Dennoch kroch sie neugierig aus ihrem Schneckenhaus voller Vor­freude auf die neue Umgebung. Sie wollte wissen, wie sich die Sonnenstrahlen anfühlten von denen ihr Freund, der Hase immer erzählte. Die Sonne würde sein Fell wärmen und wunderschön glänzen lassen. Als Frieda jedoch aus ihrem Haus kam, war ihr die Wärme der Sonne viel zu viel. Sie trocknete ihre Haut aus und ließ sie noch schlechter vorwärts kommen. Frieda sah sich um und unmittelbar vor ihr stand ein großer Apfelbaum, der großzügig seinen Schatten über die Blumenwiese warf. Das war ihr Ziel, der schattenspendende Apfelbaum. Sie war müde, hungrig und durstig, als sie dort endlich ange­kommen war.
Sie traute ihren Augen nicht. Was lag da vor ihr? Rot glänzend und kugelrund? „Wie das wohl schme­cken würde?“, fragte sich die Schnecke. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen und sie wollte ge­rade reinbeißen, als eine Krähe, die auf einem Ast des Apfelbaumes saß, rief: „He, pass auf, da ist der Wurm drinnen!“, die Schnecke erschrak fürchterlich und zog sich blitzschnell in ihr Schneckenhaus zurück. Nach den Erzählungen des Hasen musste es sich um einen Apfel handeln. Wie verlockend der Apfel doch ausgesehen hatte. Doch als sie vorsichtig aus ihrem Haus lugte, war der Apfel weg. Die Krähe hatte ihn sich bestimmt einverleibt. Zu gern hätte Frieda ein bisschen vom Apfel genascht, von der unbekannten Frucht, die ihr Interesse geweckt hatte.

So stillte Frieda ihren Hunger am frischen Gras und an ein paar Pilzen. Sie schaute sich auf der Blumenwiese um und betrachtete die herrlich bunten und duftenden Pflanzen um sich. Viele Bienen und Hummeln waren unterwegs und sammelten Nektar. Frieda beobachtete das rege Treiben der ihr sonst fremden Tiere. Am Bach traf sie Biber und Otter aber keine Hummeln und Bienen. Auch ein Schmetterling kam angeflogen und machte eine kurze Rast auf einer Blume. Frieda war froh, mit dem Hasen hierhergekommen zu sein, einmal etwas anderes zu sehen. Es war aufregend und spannend zugleich. Sie hatte so lange von der großen weiten Welt geträumt, nach der Möglichkeit schnell und unabhängig an einen anderen Ort zu kommen und dennoch spürte sie etwas Sehnsucht nach ihren Freunden am Bach, ihrer gewohnten Umgebung. War ihr Leben dort wirklich so langweilig und fühlte sie sich dort wirklich so unwohl und unglücklich? Irgendwie sah aus der Ferne betrachtet alles ein bisschen anders aus … Sie stellte fest, dass der Blickwinkel oft so vieles veränderte.

Frieda beobachtete einen wunderschönen Sonnenuntergang, so einen hatte sie am Bach noch nie gesehen. Sie lauschte dem Zirpen der Grillen, dem Rauschen der Blätter im Wind und beobachtete den fröhlichen Abendtanz der Mücken. Sie spürte Ruhe und Frieden in ihrem Herzen. Da Flinkerfuß noch immer nicht aufgetaucht war und die Schnecke müde war, kroch sie in ihr Schneckenhaus und schlief friedlich ein.

Früh am nächsten Morgen klopfte jemand ungeduldig und aufgeregt an ihr Schneckenhaus. Es war Flinkerfuß. „Der Otter und der Biber sind schon krank vor Sorge, weil sie dich nirgendswo finden können!“, meinte der Hase. „Du fehlst ihnen!“ Frieda schaute verschlafen und ungläubig aus ihrem Schneckenhaus heraus. „Weißt du, Flinkerfuß, die Blumenwiese ist wunderschön, das Rauschen der Blätter im Wind ein Ohrenschmaus und das Summen der Bienen und Hummeln ein Konzert in mei­nen Ohren, aber dennoch sehne ich mich ein wenig nach dem Plätschern des mir vertrauten Baches, das herzliche Lachen meiner Freunde und dem kühlen Nass der glitschigen Steine.“, sagte Frieda. „Auch war ich das erste Mal um mein Schneckenhaus froh. Ich habe festgestellt, dass es mir nicht nur Ballast ist, sondern dass es wunderbar ist sein Haus am Rücken zu tragen, zu wissen immer an einen Ort zurückkehren zu können, wo ich mich sicher und geborgen fühle!“
„Siehst du“, meinte Flinkerfuß „Weil du nicht so schnell von einem Ort zum anderen kommst, darfst du dein Haus am Rücken mitnehmen. Ich beneide dich manchmal darum. Aber wahrscheinlich kann ich deshalb so schnell laufen um am Abend wieder in meinem Hasenbau sein zu können!“

Und beide fühlten, dass es gut war so wie es war. Dass man manche Dinge im Leben nicht ändern konnte und bestimmt nicht sollte, dass es besser war sie anzunehmen und der Blickwinkel und die Sichtweise oft Berge versetzen können.

Möge auch euch die richtige Sichtweise, der nötige Abstand zu gewissen Lebensumständen und viel Geduld auf eurem Weg begleiten. Sind wir nicht manchmal alle ein bisschen wie Frieda? Ungeduldi­ges Erwarten, wir Sehnen uns nach Etwas, das wir nicht haben können anstatt uns über das zu freuen, was wir in unserem Leben haben? Erleben wir wieder die schönen Seiten in unserem Leben und vor allem die Menschen, die uns begleiten, viel bewusster. Es macht unser Herz zufriedener und unsere Seele bestimmt fröhlicher!

Herzlichst Cornelia