Es war einmal ein Gänseblümchen. Es wuchs auf einer großen bunten Blumenwiese und war umgeben von Glockenblumen, Margariten, Kuckucksnelken und Wiesenschaumkraut. Auch ein Hahnenfuß gehörte zu seinen Nachbarn.  Das Gänseblümchen war klein und zart und manchmal schien es, als würde es auf der großen Wiese untergehen.  Die anderen Wiesenblumen überragten es, aber das Gänseblümchen streckte stolz und selbstbewusst sein Köpfchen dem Himmel entgegen.

Wenn die ersten Sonnenstrahlen die Erde erwärmten und die Blumenwiese langsam erwachte, entfaltete auch das Gänseblümchen ein Blütenblatt nach dem anderen. Manchmal bedeckte der Morgentau die Wiese und alles klitzerte und schimmerte in einem zauberhaften Licht. Liebend gerne beobachtete das Gänseblümchen das rege Treiben um sich herum.  Bienen und Hummeln sammelten fleißig Nektar, manchmal kitzelte ein Regenwurm seine Wurzeln und ein anderes Mal streifte ein Schmetterling das Gänseblümchen mit seinem Flügelschlag.

Der beste Freund des Gänseblümchens war aber das Tagpfauenauge. Wenn die gleißende Mittagssonne endlich nachließ, wartete das Gänseblümchen schon auf seinen Freund. Unbeschwert, voller Leichtigkeit und Eleganz kam das Tagpfauenauge angeflogen und ließ sich neben dem Gänseblümchen nieder. Aufmerksam lauschte es dann den Erzählungen des Tagpfauenauge. Das Gänseblümchen beneidete seinen Freund um dessen Freiheit und Ungebundenheit, seine Möglichkeit die Welt zu erkunden und zu entdecken. Das Tagpfauenauge konnte jeden Tag aufs Neue wählen, wohin es seine zarten Flügel trugen. Das Gänseblümchen hingegen war fix mit der Erde verbunden, verwachsen und verwurzelt.
„Weißt du, ich würde so gerne einmal mit dir tauschen. Ich möchte deine Flügel haben, um die Blumenwiese verlassen und die Welt einmal von oben sehen zu können. Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …!“, sagte das Gänseblümchen zu seinem Freund.
„Du hast recht!“, bestätigte das Tagpfauenauge die Worte des Gänseblümchens. „Das Leben als Weltenbummler ist wunderschön. Ich komme viel herum, sehe sehr viel und mache täglich neue Bekanntschaften. Aber manchmal würde ich mir etwas mehr Bodenhaftung, Erdung und Sicherheit wünschen. Du bist mit deinen Wurzeln fest in der Erde verankert. Sie geben dir Halt, sind dir gleichzeitig auch Schutz und geben dir das Gefühl von Angekommen und zu Hause sein. Mögen auch Unwetter und Stürme über dich hinweg ziehen, du kannst dich auf deine Wurzeln verlassen, sie werden schlimmeres verhindern. Ich hingegen bin zwar frei und ungebunden, aber Sturm und Wind bedeuten für mich Gefahr. Meine Flügel könnten verletzt werden und mich zu Fall bringen.“
Das Gänseblümchen sah das Tagpfauenauge nachdenklich an. So hatte es die ganze Sache noch nie gesehen. Und da Schmetterlinge gewöhnlich nie lange an einem Ort verweilen, war das Tagpfauenauge schon wieder weggeflogen ehe das Gänseblümchen antworten konnte.

Auch der Maulwurf, der ebenfalls auf der Blumenwiese lebte, war ein treuer Freund, Zuhörer und Berater des Gänseblümchens. Er würde bestimmt wieder einmal des Weges gegraben kommen, dann würde das Gänseblümchen ihn um Rat fragen. Und der Maulwurf ließ auch nicht lange auf sich warten.
„Lieber Maulwurf, vielleicht kannst du mir bei meinem Wunsch, die Welt zu entdecken, helfen.“ Der Maulwurf war überrascht und meinte nur: „Ich bin zwar blind, aber warum willst du weg von hier!? Du hast mir die Blumenwiese schon so oft in den leuchtendsten, buntesten Farben beschrieben. Sie muss wunderschön sein! Warum bist du nicht zufrieden mit dem was du hast!?“
„Dieses hier festgewachsen zu sein auf diesem Stück Erde, es macht mich bewegungsunfähig und beraubt mich meiner Freiheit. Aber könntest du nicht mit deinen flinken Händen einfach einen Graben um meine Wurzeln ziehen?“ Der Maulwurf konnte gar nicht so schnell antworten, da begann schon der Hahnenfuß zu schimpfen. „Wie stellst du dir das vor, Gänseblümchen!? Du hinterlässt ein riesen Loch auf der Blumenwiese, wenn du nicht mehr da bist. Wer soll die Lücke auffüllen!? Niemand kann das! Du kannst nicht einfach so gehen, nur weil dir gerade danach ist. Du bist ein Teil von einem Ganzen, in diesem Fall von der Blumenwiese.“
Das Gänseblümchen sah den Maulwurf ratlos an. „Ganz unrecht hat er damit nicht!“, meinte der Maulwurf zögernd. „Ich kann ja deinen Wunsch nach Freiheit und deinen Entdeckergeist verstehen, aber deine Entscheidung, die Blumenwiese zu verlassen, hat große Konsequenzen. Eben nicht nur für dich, sondern auch für die Blumen rings um dich herum. Überdenke deine Entscheidung sorgfältig!“ Dann steckte der Maulwurf seinen Kopf wieder in die Erde und war verschwunden.

Das Gänseblümchen wurde sehr traurig. Sein Traum von Freiheit, Unabhängigkeit und dem Entdecken der Welt schien ausgeträumt zu sein. Aber gleichzeitig hatte es auch die Worte des Schmetterlings, Maulwurfs und Hahnenfuß im Ohr. Jeder hatte ganz andere Voraussetzungen für das Leben mitbekommen. Der Schmetterling hatte Flügel, die ihn frei und unabhängig machten, aber er hatte keine halt gebenden Wurzeln. Sein Leben war in der Luft. Der Maulwurf liebte zwar Erzählungen über Farben und Licht, weil er selbst blind war und deshalb war sein Leben wohl im Erdreich.
Und das Gänseblümchen!? Es wuchs auf der Blumenwiese, fest verwurzelt und verankert mit der Erde und machte dadurch die Wiese erst zu etwas Ganzem. Und da erkannte das Gänseblümchen, dass es zwar nur ein kleiner Teil in diesem Universum war, aber dass sein Platz einzigartig und besonders war und sein Platz auf der Blumenwiese ganz bestimmt einen Sinn hatte.

Ich wünsche euch, dass auch ihr den Sinn an eurem Platz im Leben erkennen und annehmen könnt und ihr euch auf euch, eure Fähigkeiten und euer Potential konzentrieren könnt, ohne ständig im Wettkampf und Vergleich mit anderen zu sein. Die Fähigkeit zu träumen, Gedanken, die euch beflügeln, aber auch im richtigen Moment Bodenhaftung, das wünsche ich euch!

Alles Liebe

Cornelia