Es war einmal eine kleine, zarte Elfe. Sie lebte in einem großen Wald, in dessen Mitte sich eine Lichtung mit einem wunderschönen See befand. Liebend gerne flog die Elfe an diesen bezaubernden Ort. Sie setzte sich dann auf den kleinen Steg, tauchte ihre Füße ins Wasser und ließ ihre Seele baumeln. Noch nie hatte sie jemanden an diesem zauberhaften Fleck angetroffen. Warum das wohl so war?
Die kleine Elfe wusste es nicht. Sie machte sich aber auch keine Gedanken darüber, sondern genoss die Stille und Ruhe. Wenn die Abendsonne ihre letzten Strahlen aussandte und der See in einem warmen, goldenen Licht glänzte, schien die Welt für einen Moment still zu stehen. In der Ferne sangen die Vögel ihr Abendlied und auch die Grillen gaben ihr Konzert zum Besten.
Plötzlich wurde diese traumhafte Atmosphäre durch eine aufgeregte Stimme unterbrochen. „Kleine Elfe, geh‘ weg vom Steg! Dies hier ist ein gefährlicher Ort!“ Erschrocken zog die Elfe ihre Beine aus dem Wasser und flog Richtung Wald – dorthin, woher sie die Stimme vernahm. Es war ihr Freund, der flinke Schmetterling. „Was ist los!?“, wollte die Elfe wissen. „Warum bist du so aufgeregt!?“ Der Schmetterling war noch immer kreidebleich vor Schreck und stammelte nur ein paar unverständliche Worte. Die Elfe wollte ihren Freund vorerst einmal zu den anderen Bewohnern des Waldes begleiten. Vielleicht konnten ihr diese mehr über den geheimnisvollen See erzählen.
Da es schon Abend war, kamen alle wie üblich unter der alten Eiche zusammen. Viele gemütliche Stunden hatten die Waldbewohner hier schon gemeinsam verbracht. Es wurde erzählt, gelacht und getanzt. Manchmal gab es aber auch Momente, in denen alle gemeinsam schwiegen, traurig waren und auch Tränen vergossen. Aber gerade in solchen Zeiten konnte man den Zusammenhalt, die Verbundenheit und gegenseitige Anteilnahme und Rücksicht aufeinander spüren.
Als nun die beiden Freunde angeflogen kamen, fühlten die anderen Waldbewohner sofort, dass etwas vorgefallen war. Die kleine Elfe erzählte kurz von dem zauberhaften See, dem schmalen Steg, wie sie dort ihre Füße ins Wasser hängen ließ und den Sonnenuntergang beobachtete … Alle waren sprachlos. Es war mucksmäuschen still. Die Elfe verstand die Welt nicht mehr. Was war so schlimm daran ihre Füße in den kühlen See zu tauchen an einem so heißen Sommertag?
Der schlaue Uhu war der Erste, der sich wieder fassen konnte. „Liebe Elfe, du kannst von großem Glück reden, dass du diesen Leichtsinn nicht mit dem Leben bezahlt hast!“, meinte er. „Weißt du denn nicht, dass dort im See ein altes, gefährliches und gefräßiges Krokodil lebt?“ Nun verstand die kleine Elfe die Aufregung ihrer Freunde. „Nein, das habe ich nicht gewusst!“, sagte sie ungläubig. „An fast jedem heißen Sommertag sitze ich abends kurz an dem See. Es ist so ein wundervoller Platz, aber ein Krokodil habe ich dort noch nie beobachten können …!“ Ihre Freunde begannen wild durcheinander zu reden. Jeder wusste eine noch unheimlichere Geschichte über das Krokodil.
„Ja, aber woher wollt ihr wissen, dass es das Krokodil wirklich gibt, wenn ihr euch gar nicht zum See traut? Oder ist einer von euch dem Krokodil schon einmal begegnet?“ Es wurde still, sehr still. Keiner von ihnen hatte das Krokodil jemals gesehen … Alle kannten es nur aus Erzählungen.
So schnell wollte sich die kleine Elfe ihren Lieblingsort nicht ausreden lassen, deshalb beschloss sie sich auf die Lauer zu legen. Bevor sie das Krokodil, das angeblich so gefährlich sein sollte, nicht mit ihren eigenen Augen gesehen hatte, wollte sie seiner Existenz keinen Glauben schenken. Tagelang saß die kleine Elfe mit einem ausreichenden Sicherheitsabstand hinter einem großen umgefallenen Baumstamm versteckt und wartete und wartete … Das Krokodil schien es nicht zu geben. „Diese Angstmacherei!“, dachte sie bei sich. „Und alle glauben sie das, was ihnen jahrelang eingetrichtert wurde ohne es zu hinterfragen!“ Die Elfe ärgerte sich über ihre Freunde. So viele schöne Augenblicke hatten sie versäumt nur weil ihre Angst sie daran gehindert hatte an den See zu kommen. Eigentlich stimmte das die Elfe sehr traurig. So viele verpasste Möglichkeiten.
Plötzlich wurde die mutige Elfe aus ihren Gedanken gerissen. Die sonst so ruhige Wasseroberfläche des Sees begann sich zu kräuseln und ein grünes, runzeliges Ungeheuer kam an die Oberfläche des Wassers. Es riss das Maul auf und gähnte. Dabei konnte die Elfe die scharfen Zähne des Ungeheuers sehen. Vor Schreck schrie sie laut auf. Da hob das Krokodil seinen Kopf etwas höher, lauschte und krabbelte dann schwerfällig aus dem Wasser. „Ist da jemand?“, fragte es und sah sich vorsichtig um. Die kleine Elfe wäre am liebsten davon geflogen, aber dann hätte sie ihren Freunden die Existenz des furchterregenden Krokodils bestätigen müssen. Sie wollte sich ihrer Angst stellen und die Bekanntschaft des Krokodils machen. Also kam sie aus ihrem Versteck hervor und zeigte sich dem Krokodil. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schließlich wusste sie ja nicht, was sie erwartete. Aber da sie schon so oft am Steg ihre Füße ins Wasser hängen und das Krokodil sie bis heute nicht gefressen hatte, wollte sie einfach an das Gute glauben …
„Hallo, kleine Elfe!“, begrüßte das Krokodil sie. „Es ist mir eine große Freude dich einmal zu sehen. Sonst sehe ich deine zarten Füße nur von unten.“ Die kleine Elfe war etwas verunsichert. Ob sie dem Krokodil trauen konnte oder ob es ihr nur schöne Augen machte um ein leckeres Abendessen zu bekommen? Das Krokodil bemerkte die Unsicherheit und Vorsicht der Elfe und sagte: „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe nicht vor dich zu fressen. Noch nie habe ich jemandem etwas zu Leide getan!“
Es dauerte ein bisschen bis die kleine Elfe Vertrauen fasste und ihr Herz öffnete. Aber je besser sie das Krokodil kennen lernte desto mehr gewann sie es lieb und es wurde eine wundervolle Freundschaft daraus. Irgendwann konnte die Elfe auch ihre Freunde aus dem Wald überzeugen, sie mit zum See zu begleiten. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie ein zahmes, freundliches und herzliches Krokodil am Steg liegen sahen. Es war ganz anders als sie es in ihrer Vorstellung gehabt hatten. Und was sie alles versäumt hatten … die traumhaften Sonnenuntergänge, der funkelnde See, das Abendkonzert der Vögel und Grillen. Was war ihnen alles entgangen aufgrund der unbegründeten Angst vor dem Krokodil.
„Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet.“
(Anthony de Mello)
Ich wünsche euch den Mut und die Ausdauer Lebenssituationen und Einstellungen zu hinterfragen, keine Angst davor zu haben die Richtung einmal zu ändern und einen anderen, neuen und unbekannten Weg einzuschlagen. Möge das Leben viele kleine Überraschungen für euch bereithalten.
Herzlichst
Cornelia
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