„Mama, was ist eigentlich behindert?!“ Die Frage meiner Tochter ließ mich erstaunt aufhorchen, da ich den Begriff behindert so gut wie nie verwende. Ich mag diesen Ausdruck nicht gerne. Die Umschreibung Menschen mit Handicap oder beeinträchtigte Menschen finde ich viel respektvoller. Für meine Tochter sind diese Bezeichnungen aber unverständlich. Deshalb nenne ich für sie diese Menschen besonders. Besonders, weil sie einer besonderen Aufmerksamkeit, einer besonderen Unterstützung und einer besonderen Betreuung bedürfen. Einfach ein bisschen mehr brauchen, als vielleicht die „Normalbevölkerung“ und sie es trotzdem verdient haben, mitten drin im Leben sein zu dürfen. Mit dem notwendigen Verständnis, der Achtsamkeit und Feinfühligkeit der Mitmenschen kann das auch gut gelingen.
Wie erkläre ich aber nun meiner Tochter den Begriff behindert? Ich überlege und komme zu dem Entschluss, dass ich das wohl am besten mit einer Geschichte kann …
Ich wünsche allen viel Freude beim Lesen. Vielleicht kann der eine oder andere meine Geschichte einmal selbst gebrauchen. Sonst soll sie einfach zum Nachdenken anregen und die Sensibilität für diese besonderen Menschen etwas erhöhen.
Mitten drin im Leben …
Es war einmal ein kleines Pony. Weder sein Fell, seine Mähne noch seine Kleinwüchsigkeit waren von besonderer Auffälligkeit. Was jedoch sofort ins Auge stach, war sein rechtes Hinterbein. Es war irgendwie besonders. Dadurch konnte das kleine Pony aber nicht so schnell laufen, wie die anderen Ponys auf dem Hof. Das kleine, besondere Pony namens Ferdinand, stand gemeinsam mit den anderen Pferden auf der Weide. Immer wieder kamen Eltern mit ihren Kindern auf den Bauernhof. Die Kinder wählten dann ein Pony aus auf dem sie eine Runde reiten wollten. Ferdinand durfte sehr selten die Weide verlassen und auf seinem Rücken ein Kind tragen. Wer wollte schon ein Pferd das hinkte und sehr langsam lief? Niemand. Das kränkte Ferdinand sehr, wenn er so zurück-
gewiesen und einfach links liegen gelassen wurde. Manchmal wurde er aus-
gelacht und musste gemeine Bemerkungen über sein rechtes Hinterbein über sich ergehen lassen. Als fast noch schlimmer empfand er aber dieses Mitleid, das manche Hofbesucher mit ihm hatten. Er wollte dieses Mitleid nicht, denn er kam ganz gut mit dem Leben auf dem Hof zurecht.
Als Ferdinand nun also so friedlich auf der Weide dahin graste, kam plötzlich Maria angelaufen. Sie war das Jüngste von den vier Kindern am Bauernhof. Von Weitem rief sie schon: „Ferdinand, Ferdinand, wollen wir eine Runde ausreiten!?“ Da machte Ferdinands Herz vor Freude einen Luftsprung. Maria stürmte auf die Weide, legte ihre Arme um den Hals von Ferdinand und kraulte ihn hinter den Ohren. Das waren die Momente vollkommenen Glücks für Ferdinand. Maria liebte ihn über alles und es war ihr egal, dass Ferdinand langsamer über die Wiesen und Felder lief als die anderen Ponys. Sie machte keine Vergleiche, sondern mochte Ferdinand einfach so wie er war. Er war eben ein ganz besonderes Pony.
Gemeinsam verließen Ferdinand und Maria die Weide. Ferdinand war schon gespannt, wohin der Ausritt dieses Mal ging … Maria schwang sich elegant auf seinen Rücken und hielt sich vorsichtig an seinem Hals fest. Da Ferdinand ja sehr gemütlich ging, konnten sie auf einen Sattel verzichten. Immer wieder streichelte Maria Ferdinands Mähne, während sie entlang eines Feldweges ritten. Maria beobachtete ihre Umgebung sehr genau. Manchmal machte sie Ferdinand dann auf Kleinigkeiten aufmerksam. „Schau mal, Ferdinand, da fliegt ein wunder-
schöner Schmetterling!“, rief Maria begeistert. Ein anderes Mal musste er kurz stehen bleiben, weil Maria ein paar Heidelbeeren entdeckte, die sie dann genüsslich vernaschte. Da die Zeit aber nie drängte, konnten sie Pausen einlegen so viele sie wollten. Sie konnten an den zauberhaftesten Plätzen verweilen und die Schönheit der Natur genießen.
Aber wohin führte die heutige Entdeckungsreise?
Sie waren schon lange unterwegs und Ferdinand war schon etwas müde von dem langen Ausritt. Hoffentlich würde Maria bald eine Pause einlegen. „Halt, Ferdinand!“, rief Maria da. Sie waren an einem kleinen Bach angekommen, der in der späten Nachmittagssonne glänzte. „Da wollen wir heute eine Rast machen!“, meinte Maria fröhlich. Ferdinand hatte Durst und trank das herrlich, erfrischende Bachwasser. Maria zog ihre Schuhe aus und watete im Bach. Plötzlich rutschte sie jedoch auf einem glitschigen Stein aus und fiel ins Wasser. Normalerweise musste sie über ihr Ungeschick herzlich lachen, aber dieses Mal schrie sie vor Schmerz auf. Maria hielt sich den Knöchel ihres Fußes und versuchte an das Bachufer zu kommen. Das fiel ihr sehr schwer, sie schaffte es aber schließlich und ließ sich erschöpft ins Gras fallen. Ferdinand war über Marias Schrei furchtbar erschrocken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Offensichtlich hatte sich Maria verletzt. Sie versuchte auf seinen Rücken zu klettern, doch das klappte nicht. „Ferdinand, du musst zurücklaufen und Hilfe holen!“, sagte Maria und in ihrer Stimme schwang etwas Verzweiflung mit. Ferdinand wieherte zustimmend und lief so schnell er konnte zurück. Er war sich nicht ganz sicher, ob er den Weg zum Hof zurückfinden würde, aber er musste. Maria zu Liebe. Ferdinand war selbst erstaunt, wie gut er den Weg erkannte. Am Hof angekommen entdeckte er den Bauern. Er wieherte laut und zog den Bauern am Rockzipfel seiner Jacke. „Was willst du!?“, ging der Bauer ihn an. „Taugst eh zu nichts und jetzt bist du auch noch lästig!?“ Ferdinand ließ nicht locker und schließlich konnte er den Bauern dazu bewegen mit ihm mitzukommen. Er schimpfte zwar den ganzen Weg lang immer wieder vor sich hin, aber Ferdinand ließ sich davon nicht beirren. Ferdinand wusste, dass ihn der Bauer nicht mochte, da er nichts einbrachte und er dem Bauern nur Kosten verursachte. Er wurde vom Bauern nur geduldet, weil Maria ihn so unendlich gerne mochte. Wenn der Bauer Ferdinand nur ein Haar gekrümmt hätte, dann wäre Maria totunglücklich gewesen. Also durfte Ferdinand am Hof bleiben.
Endlich war Ferdinand mit dem Bauern am Bach angekommen. Da schrie Maria schon von Weitem: „Ferdinand, du bist mein Held!“ Der Bauer erschrak und eilte zu seiner Tochter. „Maria, was fehlt dir? Was ist passiert?“, wollte er wissen. Maria zeigte ihrem Vater den verstauchten Knöchel und dass sie nicht auftreten konnte. Der Bauer hob sie hoch und setzte sie vorsichtig auf Ferdinands Rücken. Gemeinsam kehrten sie zum Hof zurück. Maria war sehr stolz auf Ferdinand und selbst der Bauer klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. Gott sei Dank verheilte Marias Knöchel wieder schnell.
Nach diesem Vorfall veränderte sich aber das Verhalten des Bauern grund-
legend. Er akzeptierte Ferdinand so wie er war und auch bei den Vorführungen, bei denen die Kinder ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern zeigten, was sie bereits gelernt hatten, durfte Ferdinand dabei sein. Das freute ihn besonders und war für ihn eine große Ehre. Von nun an war Ferdinand nicht mehr nur ein Zuschauer, sondern durfte am Hofleben als vollwertiges Mitglied teilhaben.
„Ich habe dich lieb, weil du so bist wie du bist, egal wie du bist!“
Liebevolle Grüße
Cornelia
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